Genlis, Stephanie Felicité Ducrest de St. Aubin, Gräfin von

Genlis, Stephanie Felicité Ducrest de St. Aubin, Gräfin von

Genlis, Stephanie Felicité Ducrest de St. Aubin, Gräfin von, jene außerordentliche Frau, deren geistvolle Darstellungen uns von dem Leben und Treiben der höhern Stände, von den Erfordernissen des geselligen Umgangs, von den Feinheiten des guten Tons und den gesammten Zuständen der gebildeten Welt nach allen Richtungen des Lebens, der Moral, der Erziehung und Literatur so treffliche Schilderungen geliefert haben, war am 25. Januar 1746 zu Champcéri bei Autun in Burgund geboren. Vielleicht hat nie eine Frau so viel geschrieben, als die Gräfin Genlis, die aufmerksamste Beobachterin der Menschen und Dinge, und so hat sie denn auch, wie alle Personen, die zu einer großen Berühmtheit gelangt sind, im Alter sich verpflichtet geglaubt, über die kleinen Ereignisse ihrer Kindheit die genauesten Aufschlüsse zu geben. Früh schon machte sich die Neigung der Demoiselle de St. Aubin, unter ihren Umgebungen eine gewisse Wichtigkeit zu behaupten und ihre Handlungen und Ansichten als Muster für die Anderer aufzustellen, geltend; schwache Eltern umgaben sie bereits als Kind mit dem möglichsten Prunk ihres Standes, so wurde sie in das Fräuleinstift von Alia bei Lyon aufgenommen und nach einer Besitzung ihres Vaters mit dem Titel einer Comtesse de Lancy bekleidet. Wenn nun auch diese Ansprüche der Geburt allein zum Glanz ihres Lebens noch immer Wenig beitragen konnten, so sicherten ihr dagegen andere, natürliche Vorzüge, ein gefälliges Aeußere und seltene musikalische Fertigkeiten die Aufnahme in höhere Gesellschaften. Herr Ducrest, ihr Vater, verlor sein Vermögen und Stephanie bezog mit ihrer Mutter eine kleine, ärmliche Wohnung in Paris, wo Beide völlig unbemerkt und sehr eingeschränkt lebten, bis ihnen der reiche La Popelinière einen angenehmen Aufenthalt auf seinem Landgute Passy anwies. Nach dessen Tode kehrten Mutter und Tochter nach Paris zurück; der Vater war inzwischen nach Westindien gereist, wo er einen Theil seines Vermögens wieder gewonnen hatte, wurde aber auf der Rückkehr von den Engländern gefangen genommen und nach Lanceston, an der englischen Küste, gebracht. Hier lernte er den Grafen Sillery de Genlis, einen jungen Marineoffizier, kennen, der durch einen Brief Stephaniens und den Anblick ihres Bildes, das der Vater auf einer Dose bei sich trug, so bezaubert ward, daß er ihr seine Hand antrug. Sie war damals 18 Jahre alt, besaß aber außer einer einnehmenden Gestalt und dem Talent für die Harfe weder Verdienste, noch literarischen Ruf; durch die Verbindung mit dem Grafen wurde sie die Nichte der Frau von Montesson, die mit dem Herzog von Orleans heimlich vermählt war, und in den vornehmsten Gesellschaften der Hauptstadt einheimisch. Inmitten rauschender Vergnügungen und schimmernder Feste weihte sich die außerordentliche Frau den anhaltendsten Studien der Religion und Moral, und bereitete so jene zahlreichen Schriften vor, mit denen sie vierzig Jahre hindurch, ohne zu altern, die Aufmerksamkeit und zum Theil die Bewunderung von Europa rege erhielt. Zur Ehrendame der Herzogin von Orleans ernannt, wurde ihr die Erziehung der Kinder derselben anvertraut; gleichzeitig erschienen das »Théàtre d'éducation«, »Adèle et Théodore«, »Les veillées du chàteau und »Les annales de la vertu«. Die Revolution brach aus und mit ihr erschien für Frau von Genlis die Periode, welche durch die Zweideutigkeit der Rolle, die sie zu spielen für gut fand, bei Weitem als die mindest glänzende ihres langen, erfahrungsreichen Lebens anzusehen ist. Anstatt vor den blutigen Ereignissen zurückzuschaudern, wie es dem Weibe, wie es der unversöhnlichen Feindin der Philosophen, seitdem diese ihre theologischen Schriften angegriffen hatten, zuzutrauen gewesen wäre, eilte sie bei der ersten Nachricht von der Einnahme der Bastille nach Paris und wohnte mit ihren Zöglingen dem Triumph des siegenden Pöbels bei. Auf Befehl des Herzogs, dessen Antheil an den ersten Ereignissen des furchtbaren Drama's gegenwärtig völlig außer Zweifel gesetzt ist, wurde sein Sohn, der junge Herzog von Chartres, in den Jakobinerklub aufgenommen und war in Begleitung seiner Erzieherin ein regelmäßiger Besucher der Versammlungen. Frau von Genlis selbst erzählt in ihren Denkwürdigkeiten, daß sie sich nicht nur jedes Gefühls von Anhänglichkeit an die vorige Regierung, sondern auch der natürlichen Furcht ihres Geschlechts entäußert habe und von den bedeutendsten Begebenheiten, auch von dem berüchtigten Zuge nach Versailles Zeuge gewesen sei. Ebenso ungerecht als unweiblich ist die Art, mit der sie sich an vielen Orten über die Opfer jenes Zeitraums äußert; selbst für die edle und tugendhafte Prinzessin von Lamballe, deren Ermordung durch ganz Europa den blutigsten Abscheu erregte, hatte Frau von Genlis kein Wort des Bedauerns. Wiewohl der Herzog ihr Erziehungssystem vollkommen billigte, so empörte sich doch das Herz seiner Gemahlin, als sie wahrnehmen mußte, wie man die kindlichen Gemüther mit Gedanken und Bildern des Schreckens vertraut machte, und von der Mutter immer mehr entfernte. Trotz der beklagenswerthesten häuslichen Auftritte darüber blieb Frau von Genlis an ihrem Platze und änderte ihre Ansichten nicht eher, als bis die eigene Partei des Herzogs gegen ihn sich auflehnte und ihn zwang, die Guillotine zu besteigen. Von England aus, wohin sie mit ihren Zöglingen geflüchtet war, wandte sie sich nach Belgien und der Schweiz, und hielt sich auch in Deutschland auf, wo sie die »Chevaliers du Cygne« schrieb, um, wie sie selbst sagt, ihre monarchischen Grundsätze und ihre Anhänglichkeit für die königliche Familie zu bethätigen und die Welt zu belehren, »wie sie Harfe spiele, Blumen zeichne, Romane dichte und sich von der Politik und ihren Intriguen ganz entfernt halte.« Endlich nach zahlreichen Abenteuern und den mannichfachsten Erfahrungen, die sie in täglicher Berührung mit so vielen und fremdartigen Menschen und Gegenständen bestanden und gesammelt hatte, kehrte Frau von Genlis unter dem Consulate nach Frankreich zurück. Es gelang ihr später, die Gunst des Kaisers zu gewinnen, der ihr eine Wohnung im Arsenal und einen ansehnlichen Jahrgehalt anwies und sogar mit ihr einen vertrauten Briefwechsel unterhielt, gewiß weniger, um ihren Rath bei wichtigen Angelegenheiten zu hören, wie sich die eitle Frau einbildete, als vielmehr um ihre Erinnerungen für sich zu benutzen, und eine Menge Personen und Ereignisse durch den Spiegel ihrer Erfahrungen zu sehen und zu beurtheilen. Nach der Restauration sicherte ihr die Dankbarkeit des Herzogs von Orleans ein sorgenfreies Leben und außer dieser Rente zog sie von ihren schriftstellerischen Arbeiten bedeutenden Gewinn. So hatte die berühmte Frau in Ruhe und Heiterkeit den Abend ihres Lebens genießen können, wenn sie nicht durch ihre Memoiren noch ein Mal die Augen von Europa auf sich ziehen wollen, und eben dadurch ist das Urtheil begründet, das trotz der höchsten Achtung vor ihrem Scharfsinn, ihrer wissenschaftlichen Allseitigkeit und außerordentlichen Gewandtheit dahin ausfallen muß, daß sie ihre gesammte moralische, politische und literarische Bedeutsamkeit der Eitelkeit unterordnete, wie sie ihr früher auch ihr Benehmen untergeordnet hatte. Die Denkwürdigkeiten strotzen von den gröbsten Unwahrheiten und empören durch die gehässigsten Ausfälle gegen anerkannt achtbare Männer. Außer diesen Memoiren schrieb Frau von Genlis bis zum letzten Tage ihres Lebens fast ununterbrochen eine Menge von Romanen, von denen wohl nur sehr wenige auf die Nachwelt kommen dürften. Der Nothwendigkeit, um des Gewinnes willen die Feder zu führen, einem Bedürfnisse, welches sie ihrer unwiderstehlichen Neigung zur Verschwendung wegen, auf jenen Erwerbsquell unaufhörlich zurückführte, wurde sie durch die Berufung ihres ältesten Zöglings auf den Thron von Frankreich überhoben. Mit königlicher Freigebigkeit ward sie von allen Gliedern der Familie Orleans in ihrer Zurückgezogenheit aufgesucht und mit Zeichen der wohlwollendsten Erinnerung beschenkt; Ludwig Philipp selbst drang in sie, in den Tuilerien einen Aufenthalt zu nehmen, der sie ihm näher brächte. Ein Brief an den König, diese Gnade dankbar ablehnend, war ihre letzte Arbeit; nach einer damit zugebrachten Nacht wurde sie am 31. December 1830 Morgens um 10 Uhr in ihrem Bett entseelt gefunden. Unter den Werken der Frau von Genlis, die über hundert Bände füllen, sind die angeführten Erziehungsschriften und das »Dictionnaire des étiquettes« als die bedeutendsten hervorzuheben; zur Rechtfertigung ihres politischen Benehmens schrieb sie 1796 den, »Précis de la conduite de Madame de Genlis depuis la révolution;« dramatische Versuche mißglückten gänzlich, und unter den zahlreichen Romanen zeichnen sich nur »Mademoiselle de Clermont« und vielleicht »St. Clair« aus. Das allgemeine Urtheil über diese trotz der gerügten Schwächen und Inconsequenzen doch außerordentliche Frau und ihre Schriften gesteht zu, daß Frau von Genlis am Meisten durch die Universalität ihres Geistes bewundernswürdig sei und das Verdienst der vollendetsten Zierlichkeit und Klarheit der Darstellung besitze, daß ihr dagegen schöpferische Einbildungskraft wie dramatischer Ausdruck völlig abgesprochen werden müsse. Mit den Formen, Ansichten und Vorurtheilen der Conventionswelt, außer welcher sie Nichts aufzufassen wußte, auf das Genaueste bekannt, war es diese Welt, aus der sie die Farben, mit denen sie auftrug, einzig schöpfte.

X.


http://www.zeno.org/DamenConvLex-1834.

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