Boleyn, Anna von

Boleyn, Anna von

Boleyn, Anna von, Anna von, Gemahlin und eins der unglücklichen Opfer Heinrich's VIII. Königs von England, war der letzte Sprößling aus der Ehe des Sir Thomas Boleyn mit einer Tochter des Herzogs von Norfolk; nach einigen Schriftstellern erblickte sie 1507 das Licht der Welt, andere setzen ihre Geburt in die Jahre 1499 oder 1500. Die letzte Meinung scheint uns die wahrscheinlichste, da Anna schon 1514 die Prinzessin Marie von England, welche sich mit Ludwig XII. vermählte, als Hofdame in ihr neues Vaterland begleitete; wohl schwerlich würde man ein Kind zu dieser Würde ausersehen haben. Nachdem jene Königin nach drei Jahren Witwe wurde, und nach England zurückkehrte, trat Anna in die Dienste von Claudia von Frankreich, Tochter Ludwig's XII. und Gemahlin Franz's I.; als diese Fürstin 1524 der Tod ereilte, kam sie zur Herzogin von Alençon, Schwester des Königs von Frankreich. Anna war schön, jung, geistreich, lebhaft, und von einer Heiterkeit, der sie nicht immer Gränzen zu setzen verstand. Bei solchen Anlagen, bei einem solchen Charakter war es natürlich, daß Anna den glänzenden Hof Franz's I. der zurückgezogenen, finstern und religiösen Lebensweise der Königin von England vorzog. Am Hofe wurde ihr ungemessener Beifall gezollt, und, wie man sagt, nicht ohne ihre Ehre und ihren guten Ruf zu gefährden; selbst ihre Vertheidiger verdammen die allzugroße Freiheit ihrer Rede und das Unsittliche ihres Betragens. Ohne Alles das als gewiß anzunehmen oder wiederholen zu wollen, was strenge Richter über die Verderbtheit ihrer Sitten berichten, weisen wir nur auf die Spottnamen hin, die sie sich zuzog, und welche auch den kränkendsten Verdacht, den man gegen sie erheben konnte, zu entschuldigen im Stande wären. Die Ursache, wie die Zeit von Anna's Rückkehr nach England, ist unbekannt und unbestimmt; jedenfalls ist es gewiß, daß ihr Erscheinen am Londoner Hofe den Zweifeln voranging, welche sich plötzlich über die Rechtmäßigkeit von Heinrich's VIII. Ehe erhoben. Noch bleibt die Lösung der Frage übrig, wie Anna von Boleyn gleich nach Zurückkunft in ihr Vaterland zur Hofdame der Königin ernannt wurde, die sie einst verdrängen sollte. Die Familie Boleyn war seit langer Zeit den launenhaften Vergnügungen und 'unlautern Leidenschaften des Monarchen geweiht gewesen. Schon Anna's Mutter und ältere Schwester waren Gegenstände von Heinrich's Liebe. Unter den Freunden des Hauses befand sich einer, Namens Bryan, der das würdige und unentbehrliche Werkzeug der niedrigen Begierden des Königs war und ihm in seiner Ausschweifung getreulich diente; an diesem lag es nicht, wenn Anna nicht in dieselben Schlingen fiel, deren Opfer ihre Mutter und ihre Schwester geworden waren; doch sollte sie es sein, welche dieses Mal das gefährliche Netz auswarf. Anna, die an Frankreichs Hofe mit so unzarten Ausdrücken bezeichnet worden war, erschien am englischen Hofe wie ein anderes Wesen, als Muster reiner Sittlichkeit und Tugend; sie theilte die Leidenschaft, welche sie ihrem Herrscher einzuflößen wußte, jedoch erklärte sie laut, ihm nie anders, als durch das Band der Ehe angehören zu wollen. Anna wußte, daß der ehrgeizige Cardinal Wolsey aus niedriger Rachsucht gegen Karl V. Heinrich vorgestellt hatte, sich von Katharinen zu trennen, und eine neue Verbindung mit Isabelle von Frankreich zu schließen. Sie war sogleich entschlossen, diese Uneinigkeiten für sich zu benutzen, doch ohne zu übersehen, welche Schwierigkeiten die Grundsätze der katholischen Religion einer Scheidung entgegen setzen würden. Nach und nach gelang es ihr Isabella in Vergessenheit zu bringen; Wolsey fiel in Ungnade; Katharine wurde verstoßen, und der Katholicismus abgeschworen. Einen gewissen Cranmer, einen katholischen Priester, der von der Universität von Cambridge verjagt worden war, weil er die Schwester eines lutherischen Geistlichen entführt, und im Geheim geheirathet hatte, empfahl Anna dem Könige als ein willenloses, blindes Werkzeug seines Willens. Zur Belohnung wurde jenem das Erzbischofthum Canterbury zugesichert. Heinrich VIII., dessen zügellose Leidenschaft jeden Zwang verbannte, erwartete nicht den Ausspruch seiner neuen Kirche, und vor der Auflösung der ersten Ehe schloß er unter dem Siegel des tiefsten Geheimnisses den 14. November 1532 eine zweite Verbindung mit Anna von Boleyn, die er schon früher zur Marquise von Pembrock erhoben hatte. Nach Verlauf von fünf Monaten war es nicht mehr möglich, das Geheimniß zu verbergen. Cranmer war es, der öffentlich die erste Ehe als nichtig, die zweite giltig erklärte. Ja man ging sogar so weit, der unglücklichen Katharine von Aragonien und ihrer Tochter Marie den Namen einer Königin und Fürstin zu rauben, während Anna mit fast unerhörter Pracht in Westminster gekrönt wurde. Im Jahre 1533 erblickte die berühmte Elisabeth das Licht der Welt. Die bedauernswürdige Katharine starb den 6. Januar 1535, umgeben von Spionen und Henkern, nachdem sie Zeuge der Hinrichtungen und Mißhandlungen ihrer Freunde gewesen war. Noch in den letzten Augenblicken ihres Lebens richtete die eben so tugendhafte als unglückliche Fürstin die liebevollsten, rührendsten Worte an ihren treulosen und grausamen Gatten. Heinrich hörte endlich die mächtige Stimme des Gewissens laut in seinem Innern ertönen, sandte ihr noch einige tröstliche, freundliche Worte, aber schon war die Königin nicht mehr. An dem Tage ihrer Beerdigung befahl Heinrich seinem ganzen Hofe Trauer anzulegen; Anna untersagte ihren Leuten, dem Befehle Folge zu leisten, und erschien selbst im festlichen Schmucke. Sie ahnte nicht, daß das tödtende Schwert schon über ihrem Haupte schwebte: eine aufblühende Nebenbuhlerin sollte die Geopferte rächen. Eine ihrer Hofdamen, Johanna Seymour, stieß sie herab von dem Throne, auf den Heinrich sie unrechtmäßiger Weise erhoben hatte, und stürzte sie in ein blutbespritztes Grab. Nichts konnte Heinrich VIII. für seinen Charakter dauernd an ein weibliches Wesen fesseln, und so flößte ihm auch Anna bald nur Ueberdruß ein. Er benutzte den ersten scheinbaren Grund zur Eifersucht, der sich ihm darbot, um Klage gegen sie zu erheben. Den 22 Mai 1535 sah sich Anna angeklagt, verhaftet und einer Commission übergeben, die über sie richten sollte. Ihr ganzes vergangenes Leben wurde einer strengen Prüfung unterworfen, alle jene Beschuldigungen, welche der König in blinder Leidenschaft befangen, früher zurückgewiesen hatte, wurden jetzt hervorgesucht, um ihr Verderben zu beschleunigen. Man überhäufte sie mit den schändlichsten Vorwürfen, Alles, wozu die niedrigste Sinnlichkeit ein Weib verleiten kann, wurde ihr zur Last gelegt. Anna wurde den 17. Mai 1536 von sechs und zwanzig Räthen, alle Pairs des Reichs, zum Tode verurtheilt. Die letzten Tage ihres Lebens erwecken für die Unglückliche das innigste Mitleiden, und bieten einige wahrhaft interessante Momente. Bevor sie ihr Gefängniß verließ, um den letzten Gang zu thun, ließ sie, von inniger Reue durchdrungen, die Frau ihres Gefangenwärters zu sich kommen, und warf sich vor ihr auf die Knie mit den Worten: »Sie möge in ihrem Namen zur Prinzessin Marie eilen, und sie in derselben Stellung, in der sie jetzt vor ihr im Staube liege, um Verzeihung für all' das Unglück anflehen, welches sie über ihr und ihrer Mutter edles Haupt gebracht habe.« Was den Brief betrifft, den sie dem Könige kurz vor ihrer Hinrichtung geschrieben haben soll, so sind wir nicht sehr geneigt, ihn für echt anzuerkennen. Der Text, wie er uns von einigen Schriftstellern überliefert worden ist, ist so wenig natürlich, die Gefühle so falsch, und die Ausdrücke erscheinen so gezwungen, daß wir ihn eher als das Werk einer Partei, oder Anna von ihrer Geistlichkeit untergeschoben betrachten mögen. Wahrhaft christliche Ergebung macht es wohl möglich, daß der Unschuldige seinen Mördern verzeiht; aber schwer ist es zu glauben, daß eine Königin, die den ehelichen Pflichten und ihrem Gemahl stets treu geblieben zu sein behauptete, und von ihm dennoch als Ehebrecherin und blutschänderisch angeklagt worden war, mit diesem auf dem Wege zum Blutgerüste in den zärtlichsten Ausdrücken von seiner und ihrer Liebe sprechen konnte. In den letzten Stunden, welche dem gefürchteten Augenblicke vorangegangen, bemerkte man in Anna's ganzem Wesen mehr und mehr eine gewisse Blödsinnigkeit, die sich gleich nach ihrer Verhaftung gezeigt hatte; bald richtete sie mit inniger Andacht Gebete zum Himmel; bald brach sie in ein lautes Gelächter aus; in einem Augenblicke zitterte sie vor dem Schwerte, und gleich darauf sprach sie mit großer Gelassenheit von der bekannten Geschicklichkeit und Schnelle des Scharfrichters. – In den wenigen Worten, die Anna noch sprach, während sie schon das Blutgerüste bestieg, hörte man sie weder ihre Unschuld betheuern, noch bekannte sie ihr Unrecht; sie erklärte nur, daß sie, durch das Gesetz verurtheilt, nun auch dessen Ausspruch erdulden müsse. Im Ganzen sind die Meinungen über Anna's Leben und Charakter sehr getheilt. Ihre Gegner haben ihr Andenken zu schwärzen gesucht und sie zum Ungeheuer gemacht; ihre Anhänger hingegen haben sie von jedem unreinen Verdachte reinigen wollen und sie zur Heiligen erhoben. Das Erste wie das Letzte mag übertrieben sein.

–E. v. E.


http://www.zeno.org/DamenConvLex-1834.

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